Anlaufhemmung bei der Erbschaftsteuer

Orientierungssatz:
Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt, hat spätestens mit diesem Zeitpunkt der darin ausgewiesene Erbe sichere Kenntnis von seiner Einsetzung. Ob die Gerichtsentscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist oder tatsächlich angefochten wird, ist für die Kenntnis i.S. des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO unerheblich. Entscheidung: BFH, Urteil vom 27.04.2022, II R 17/20

I. Sachverhalt:
Die Beteiligten stritten um den Ablauf der Festsetzungsverjährung für einen Erbschaftsteuerbescheid. Maßgeblicher Streitpunkt war die Kenntnis von dem Erwerb von Todes wegen. Die Erblasserin verstarb im Jahr 2003 und hinterließ ein privatschriftliches Testament aus dem Jahr 1998, aus welchem der Kläger und Revisionskläger (der Kläger) als Erbe hervorging. Mit handschriftlichen Zusatz setzte die Erblasserin den Kläger als Alleinerbe ein. Gegen die von dem Kläger beantragte Ausstellung des Erbscheins, traten Angehörige der Erblasserin entgegen.

Sie vertraten die Auffassung, dass das Testament sowie der Zusatz aufgrund der Testierunfähigkeit der Erblasserin unwirksam sei. Im Oktober 2003 erhielt die Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -FA-) zwei Anzeigen über die Einlagen der Erblasserin bei der Bank. Eine Anzeige des Erbfalls von dem Kläger ist unterblieben. Das Nachlassgericht stellte mit Beschluss aus dem Jahr 2012 fest, dass der Kläger Alleinerbe sei. Hiergegen legten die Angehörigen Beschwerde ein. Dieses Verfahren wurde am 09.10.2017 rechtskräftig abgeschlossen und am 25.10.2017 der entsprechende Erbschein erteilt. Anfang des Jahres 2018 setzte das Finanzamt durch Bescheid eine Erbschaftseuer in Höhe von ca. € 160.000 fest. Hiergehen erhob der Kläger Einspruch mit der Begründung der Festsetzungsverjährung. Die Klage wurde abgewiesen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, zum Zeitpunkt der Testamentseröffnung habe er keine Anhaltspunkte dafür gehabt, dass das Testament unwirksam hätte sein können. Damit habe er bereits damals seine Erbenstellung gekannt. Etwaige spätere Zweifel könnten die einmal weggefallene Anlaufhemmung nicht wiederaufleben lassen.

II. Entscheidungsgründe:
Die vom Kläger eingelegte Revision hat Erfolg. Das FG-Urteil, die Einspruchsentscheidung sowie der Erbschaftsteuerbescheid sind aufzuheben. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz war bei Erlass des Erbschaftsteuerbescheids die Festsetzungsverjährung eingetreten. Nach § 170 Abs. 1 AO beginnt die Festsetzungsverjährung mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist. Hiervon ist abweichend § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu betrachten.

Demnach beginnt die Festsetzungsverjährung, wenn eine Steuererklärung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Erklärung oder Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Gehemmt wird der Anlauf der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO dann, bis der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat. Maßgeblich für diese Kenntnis ist, dass dieser mit einer solchen Zuverlässigkeit und Gewissheit Kenntnis von seinem unangefochtenen Erbschaftserwerb erlangt hat, dass er in der Lage ist und von ihm deshalb auch erwartet werden kann, seine Anzeigepflichten zu erfüllen. Eine solche Gewissheit ist im Fall der letztwilligen Verfügung bei dem eingesetzten Erben dann anzunehmen, wenn er zuverlässig erfahren und somit Gewissheit erlangt hat, dass der Erblasser ihn durch wirksame letztwillige Verfügung zum Erben eingesetzt hat. Hierzu führt der Senat aus, dass angesichts der Testierfreiheit es regelmäßig nicht ausreichen wird, dass der Erbe das Vorhandensein und den Inhalt eines Testaments kennt.

Er muss nach der Sachlage auch davon ausgehen können, dass der Erblasser nicht zu einem späteren Zeitpunkt das Testament aufgehoben oder anderweitig testiert hat. Wegen der nicht ohne weiteres auszuräumenden Ungewissheit darüber, ob der Erblasser ein bekanntes Testament widerrufen oder geändert hat, ist im Regelfall davon auszugehen, dass die Kenntnis erst mit der Eröffnung des Testaments vorliegt. Die Eröffnung des Testaments bringt nicht nur dem durch letztwillige Verfügung eingesetzten Erwerber sichere Kenntnis von seinem Erwerb, sie gewährleistet auch, dass die Finanzverwaltung, die die Steuer festzusetzen hat, über die Erfüllung der Anzeigepflichten alsbald von dem Inhalt der letztwilligen Verfügung Kenntnis erhält und so in die Lage versetzt wird, eine Steuererklärung anzufordern und die Erbschaftsteuer festzusetzen.

Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt, liegen regelmäßig keine ernstlichen Zweifel an dem Bestand dieser Verfügung mehr vor. Der dort ausgewiesene Erbe hat spätestens zu diesem Zeitpunkt ausreichend sichere Kenntnis von seiner Einsetzung als Erbe, um seiner erbschaftsteuerrechtlichen Anzeigepflicht aus § 30 Abs. 1 ErbStG nachkommen zu können. Dafür ist unerheblich, ob die Entscheidung des Gerichts mit Rechtsmitteln anfechtbar ist, angefochten wird und welche Entscheidung zu welchem Zeitpunkt ggf. die Rechtsmittelinstanz trifft. Aufgrund dieser Ausführungen kommt der Senat folgerichtig zu dem Schluss, dass die Festsetzungsverjährung spätestens am 01.01.2013 begann zu laufen und somit am 31.12.2016 endete. Demnach war der im Jahr 2018 erlassene Erbschaftsteuerbescheid rechtwidrig, da der Steueranspruch aufgrund des Ablaufs der Festsetzungsfrist erloschen ist. Die Kenntnis seiner Erbenstellung hatte der Kläger nachdem das Nachlassgericht die Wirksamkeit der letztwilligen Verfügung im Jahr 2021 festgestellt hatte. Demnach lag bis dahin die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO vor. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz kommt es nicht auf das im Jahr 2017 abgeschlossene Beschwerdeverfahren an.

(Claudius Söffing, Rechtsanwalt)